23
Es dauerte fünf Stunden, bis man den Kran mit neuen Tragseilen versehen, diese einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen hatte und sich daran machen konnte, den abgestürzten Motor wieder zu heben. Die Leichen wurden weggeschafft, der Schiffsbauch ausgespritzt, und dann unternahm man einen weiteren Versuch. Eine kurze Inspektion hatte mittlerweile ergeben, daß der Aufprall, dem die Maschine ausgesetzt gewesen war, deren Funktionsweise nicht beeinträchtigen würde.
Sam war so niedergeschlagen, daß er sich am liebsten in seinem Bett verkrochen hätte, um dort die kommende Woche zu verbringen. Aber dazu war jetzt keine Zeit, denn die Arbeit mußte getan werden. Und da er wußte, wie viele gute Männer an der Baustelle mit Leib und Seele an ihrer Arbeit hingen, brachte er es nicht fertig, ihnen die vollen Ausmaße seiner Depression zu zeigen.
Obwohl er über eine ganze Reihe von Ingenieuren verfügte, waren van Boom und Welitskij doch die einzigen gewesen, die die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts mitgebracht hatten. Sam hatte sich zwar stets bemüht, weitere Fachkräfte aus dieser Zeit nach Parolando zu holen, aber sowohl das Nachrichtensystem der Trommeln als auch die Mund-zu-Mund-Propaganda hatte sich bisher als erfolglos erwiesen.
Drei Tage später bat er Firebrass zu einer Privatkonferenz in sein Hauptquartier. Nachdem er ihm einen Drink und eine Zigarre angeboten hatte, fragte er ihn, ob er bereit sei, sein Chefingenieur zu werden.
Firebrass fiel beinahe die Zigarre aus dem Mund.
»Heiliges Kanonenrohr! Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wollen mich als Nummer eins auf Ihrem Kahn?«
»Wir sollten uns lieber auf esperanto unterhalten«, sagte Sam.
»Okay«, meinte Firebrass. »An mir soll es nicht liegen. Was wollen Sie nun konkret?«
»Ich würde es begrüßen, wenn Sie die Erlaubnis dazu erhielten, angeblich einige Zeit für mich zu arbeiten.«
»Angeblich?«
»Wenn Sie wollen, könnte dieser Job für Sie zu einem ständigen werden. Das heißt, sobald das Schiff sich zu seiner großen Reise aufmacht, wären Sie sein Chefingenieur.«
Firebrass schwieg eine Weile. Sam stand auf, lief in seinem Büro auf und ab und schaute dabei hin und wieder aus den Fenstern. Der Kran hatte den Steuerbordmotor inzwischen an die vorbestimmte Stelle bugsiert und war jetzt dabei, die Einzelteile des Batacitors im gewaltigen Bauch des Schiffes zu versenken. Der Batacitor würde, wenn man die Teile wieder zusammensetzte, sechsunddreißig Fuß hoch werden. Nach seiner Installierung würden die ersten Probeläufe der Motoren stattfinden. Dazu mußte man ein doppeltes Kabel mit einer Dicke von fünfzehn Zentimetern über eine Strecke von zweihundert Fuß zum nächsten Gralstein verlegen. Wenn der Stein wie üblich seinen Energiestoß in die Luft jagte, würden die Kabel ihn zum Batacitor transportieren und dort speichern. Dann endlich konnte man dazu übergehen, die Elektromotoren anzutreiben.
Sam wandte sich von den Fenstern ab. »Nicht daß Sie denken, ich würde Sie darum bitten, Ihr eigenes Land zu verraten«, sagte er. »Sie sollten auf alle Fälle Hacking fragen, ob er etwas dagegen hat, wenn sie auf unserer Werft arbeiten. Ob Sie bei uns bleiben wollen, wenn alles soweit ist, bleibt Ihnen allein überlassen. Was würden Sie bevorzugen? Bei Hacking bleiben und seiner kleingeistigen Politik folgen – oder mit uns auf eine Reise gehen, die Ihnen das größte Abenteuer aller Zeiten bescheren kann?«
Firebrass sagte langsam: »Wenn ich Ihr Angebot akzeptieren würde – wohlgemerkt, ich sagte wenn –, dann jedenfalls nicht als Chefingenieur. Ich würde es bevorzugen, Kommandant Ihrer Luftwaffe zu werden.«
»Aber die Position des Chefingenieurs ist doch viel wichtiger!«
»Sie bedeutet nur mehr Arbeit und eine Menge Verantwortung. Ich würde gerne wieder fliegen und…«
»Aber Sie können doch fliegen! Niemand würde Sie davon abhalten. Sie müßten sich nur damit begnügen, von Richthofen über sich zu haben. Verstehen Sie doch, ich habe ihm versprochen, daß er Kommandant der Luftwaffe wird, auch wenn diese über nicht mehr als zwei Maschinen verfügt. Ist es unter diesen Umständen nicht gleich, wer die Luftwaffe kommandiert? Wichtig ist doch nur, daß Sie wieder fliegen können!«
»Es ist eine Frage des Stolzes. Ich habe Tausende von Flugstunden mehr hinter mir als von Richthofen, und das in Maschinen, die nicht nur komplizierter als die seinen, sondern auch viel größer und schneller waren. Und ich war Astronaut. Ich bin zum Mond und zum Mars geflogen und habe den Jupiter umkreist.«
»Das bedeutet doch gar nichts«, erwiderte Sam. »Die Maschine, die Sie hier fliegen werden, ist ein primitives Ding. Sie wird kaum mehr leisten als die, die Lothar im Ersten Weltkrieg steuerte.«
»Ein Nigger ist also für den zweiten Platz gerade gut.«
»Sie sind unfair!« sagte Sam aufgebracht. »Habe ich Ihnen nicht die Stelle eines Chefingenieurs angeboten? In dieser Position hätten Sie fünfunddreißig Leute unter Ihrem Kommando. Glauben Sie mir – hätte ich Lothar dieses Versprechen nicht gegeben, könnten Sie den Job sofort bekommen, wirklich!«
Firebrass stand auf. »Wissen Sie was? Ich werde Sie beim Bau des Schiffes unterstützen und gleichzeitig Ihre Ingenieure auf den neuesten Stand der Technik bringen. Aber ich will während dieser Zeit fliegen dürfen. Und wenn die Zeit dafür reif ist, werden wir uns noch einmal darüber unterhalten, wer die Luftwaffe übernimmt.«
»Aber ich kann das Lothar gegebene Versprechen doch nicht brechen«, sagte Sam verzweifelt.
»Das sehe ich ein. Aber wer weiß, was bis dahin noch alles geschieht?«
Sam fühlte sich einerseits zwar erleichtert, andererseits jedoch konnte er sich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Schließlich erteilte Hacking über das Trommel-Nachrichtensystem Firebrass die Erlaubnis, Parolando beim Schiffsbau zu unterstützen, was für Sam natürlich die Freude bedeutete, jemanden auf der Werft zu wissen, auf dessen Dienste man nicht verzichten konnte. Möglicherweise rechnete Hacking sogar fest damit, daß eines Tages einer seiner Männer zum Chefingenieur der Nicht vermietbar ernannt werden würde. Wenn Firebrass eventuell auch von den Plänen seines Chefs keine Ahnung hatte, so beschloß Sam dennoch, ihn im Auge zu behalten. Zwar wirkte der amerikanische Ex-Astronaut keinesfalls wie ein kaltblütiger Mörder, der sich irgendwann von Richthofens als unliebsamen Konkurrenten entledigte, aber das mußte nichts besagen, wie jeder weiß, der auch nur ein paar Jahre unter Angehörigen der Menschheit zugebracht hat.
Einige Tage später kam von Hacking die Botschaft, daß er bereit sei, Parolando mit einer besonders großen Schiffsladung Mineralien zu versorgen, wenn man ihm dafür die AMP-1 gäbe. Firebrass selbst flog die Maschine bis an die Grenze von Hackings Reich. Dort wurde sie von einem anderen Piloten, einem schwarzen Ex-General der amerikanischen Luftwaffe, übernommen. Firebrass selbst kehrte in einem auf ihn wartenden Segelboot nach Parolando zurück.
Der Batacitor und die beiden Elektromotoren arbeiteten perfekt. Die Schaufelräder drehten sich langsam in der Luft, wurden beschleunigt und schnurrten sanft wie Windmühlenflügel.
Wenn die Zeit kam, würde man vom Ufer aus einen Kanal bis zum Standort des großen Schiffes graben, und es würde sich mit eigener Kraft in den Fluß begeben.
Lothar von Richthofen und Gwenafra waren nicht mehr zusammen, und das lag daran, daß Lothar stets ein Schürzenjäger gewesen war und mit dem Flirten einfach nicht aufhören konnte. Obwohl er mit Gwenafras Definition des Begriffs Treue im Prinzip durchaus übereinstimmte, haperte es bei ihm an der Praxis.
Dann gab Hacking bekannt, daß er Parolando zwei Tage später besuchen wolle. Er wolle einige Handelsgespräche führen, sich nach dem Wohlergehen der schwarzen Bevölkerung erkundigen und das Flußboot in Augenschein nehmen.
Sam ließ ihm mitteilen, wie sehr ihn der bevorstehende Besuch freue. Das stimmte zwar nicht, entsprach aber den allgemeinen diplomatischen Gepflogenheiten. Allein die nötigen Vorbereitungen des angekündigten Staatsbesuchs nahmen ihn so in Anspruch, daß seine täglichen Besuche der Werft ins Wasser fielen. Es mußte für Unterkünfte und Konferenzräume gesorgt werden, denn Hacking würde natürlich nicht allein in Parolando auftauchen.
Außerdem mußten für Hackings Schiffe neue Anlegestellen gebaut werden. Die Lieferung, die er – um seine friedlichen Absichten und sein Verständnis zu dokumentieren – mitbringen wollte, würde dreimal so groß sein wie jede bisherige. Sam hätte es zwar bevorzugt, wenn die Mineralien separat gekommen wären, aber da man darauf angewiesen war, in möglichst kurzer Zeit soviel wie möglich davon zu bunkern, hatte er keine andere Wahl. Seine Spione hatten bereits herausgefunden, daß Iyeyasu dabei war, mehrere große Flotten zusammenzog und an beiden Flußufern Heere sammeln ließ. Außerdem hatte er Selinujo erneut gewarnt, seine Länder weiterhin mit Missionaren zu überfluten.
Etwa eine Stunde vor der Mittagszeit legten Hackings Schiffe an. Sein Flaggschiff war ein hundert Fuß langer Zweimaster und seine Leibwache bestand ausnahmslos aus hochgewachsenen, muskelbepackten Schwarzen mit stählernen Streitäxten und Mark-I-Pistolen. Sie marschierten über die Gangway an Land und trugen pechschwarze Kilts. Ihre Helme, Stiefel und Brustpanzer waren aus Fischleder gleicher Farbe gefertigt. Die Männer stellten sich in Sechserreihen rechts und links von der Gangway auf. Dann erschien Hacking selbst.
Er war ein großer, gutgebauter Mann mit dunkelbrauner Hautfarbe, etwas schräggestellten Augen, einer breiten Nase, dicken Lippen und einem vorstehenden Kinn. Seine Frisur unterschied sich nicht von denen, die – wie man Sam erzählt hatte – die Schwarzen während der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Erde getragen hatten. Wie Sam erfuhr, hatten Wuschelköpfe dieser Art auf der Erde als »natürlich« gegolten, obwohl die Geschichte der Schwarzen darüber nichts aussagte und die Vorfahren der Sklaven in der Regel das Haar kurz getragen hatten. Firebrass hatte ihm erklärt, daß diese Frisur des zwanzigsten Jahrhunderts deswegen als »natürlich« empfunden worden war, weil sie ein Symbol der Freiheit darstellte. Für die Schwarzen dieser Zeit hatten die Kurzhaarfrisuren nur eine gesteigerte Form der Kastration durch die Weißen bedeutet.
Hacking trug einen schwarzen Umhang, einen schwarzen Kilt und Ledersandalen. An einem breiten Gürtel, der sich um seine Hüften schlang, baumelte als einzige Waffe ein Rapier.
Auf ein Signal Sams hin feuerten die Kanonen einundzwanzig Böllerschüsse ab. Man hatte sie am Rand der Ebene auf einen etwas herausragenden Hügel platziert, denn man beabsichtigte nicht nur, den schwarzen Gast zu ehren, sondern ihn gleichzeitig auch zu beeindrucken: Nur Parolando verfügte über Artillerie, auch wenn diese lediglich aus einer 75-Millimeter-Kanone bestand.
Dann stellte man sich gegenseitig vor, wobei Hacking keinerlei Anstalten machte, seinen Gastgebern die Hände zu schütteln. Firebrass hatte sowohl Sam als auch John dahingehend darauf vorbereitet, indem er ihnen erklärt hatte, Hacking täte das nur bei hundertprozentigen Freunden.
Während Hackings Leute auf dem nächsten Gralstein ihre Metallzylinder abstellten, unterhielten sich die Delegationen in unverbindlichem Tonfall. Schließlich gaben die Gralsteine wie gewohnt ihre Energie ab und füllten die Behälter. Dann taten sich die Regierungschefs zusammen und strebten, begleitet von ihren Stellvertretern, Beratern und Leibwächtern, Johns Palast entgegen. Der Ex-König hatte darauf bestanden, daß das erste Zusammentreffen in seinem Hause stattfand, und Sam zweifelte nicht daran, daß er das getan hatte, um Hacking zu zeigen, daß er sich selbst für den wichtigeren Mann in Parolando hielt. Aber sicher wußte Hacking durch Firebrass längst, wie es zwischen John Lackland und Sam Clemens in Wahrheit stand.
John schien es allerdings, wie Sam mit einigem Amüsement spürte, schon bald zu mißfallen, in seinen eigenen vier Wänden eingeseift zu werden, denn während des Essens stand Hacking auf und hielt eine flammende Rede über die Schlechtigkeit des weißen Mannes und die Gemeinheiten, die er den Negern angetan hatte. Das Schlimme daran war, daß er nicht einmal die Unwahrheit sagte, sondern mit jedem Wort die Wahrheit sprach, wie Sam anerkennen mußte. Zum Teufel noch mal, er wußte das alles selbst: Er hatte sowohl die Zeit der Sklaverei als auch die nach dem Bürgerkrieg miterlebt. Er war in diese Ära hineingeboren worden und in ihr auf gewachsen – und das war lange vor Hackings Geburt gewesen. Er hatte Huckleberry Finn, Pudd’nhead Wilson und Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof verfaßt. Aber es war sinnlos, Hacking darauf hinzuweisen. Der Mann nahm überhaupt keine Notiz von ihm.
Und so fuhr er mit lauter Stimme fort, berichtete von Tatsachen wie grauenhaftem Elend, Prügeleien, Morden, Hungersnöten, Demütigungen und so weiter und so weiter und flocht hie und da eine Übertreibung und eine boshafte Bemerkung über die weiße Rasse ein.
Sam fühlte sich schuldig und war gleichzeitig wütend. Warum griff man ausgerechnet ihn an? Was sollte diese pauschale Verurteilung?
»Ihr seid alle mitschuldig!« schrie Hacking schließlich. »Jeder weiße Mann ist dafür verantwortlich!«
»Ich habe vor meinem Tod nicht mehr als ein Dutzend Schwarze gesehen«, erwiderte John. »Was sollen diese Angriffe? Damit habe ich doch nichts zu tun.«
»Wenn Sie fünfhundert Jahre später zur Welt gekommen wären«, sagte Hacking bissig, »wären Sie sicher der Schlimmste von allen gewesen. Ich weiß alles über Sie, Majestät!«
Sam stand plötzlich auf und rief: »Sind Sie zu uns gekommen, um uns zu erzählen, wie die Verhältnisse auf der Erde waren? Das wissen wir selber! Die Erde existiert nicht mehr. Und jetzt zählt das, was hier geschieht!«
»Yeah«, sagte Hacking, »und was hier geschieht, ist dasselbe wie auf der guten alten Erde! Es hat sich überhaupt nichts geändert! Ich brauche mich doch hier nur einmal umzusehen, um festzustellen, wer in diesem Land den Ton angibt. Zwei Weiße! Wo sind denn die Schwarzen? Und dabei besteht Ihre Bevölkerung zu zehn Prozent aus Negern. Gehört auch nur einer davon Ihrer Rats Versammlung an? Wo ist er denn? Ich sehe ihn nicht!«
»Das ist Cawber«, sagte Sam.
»Yeah! Aber er ist nur ein zeitweiliges Mitglied, und das ist er auch nur geworden, weil ich nach einem schwarzen Botschafter verlangt habe!«
»Die Araber stellen ein Sechstel unserer Bevölkerung«, sagte Sam. »Und trotzdem befindet sich keiner von ihnen in unserem Rat.«
»Weil sie weiß sind, deswegen! Und deswegen will ich sie los sein! Verstehen Sie mich nicht falsch. Es gibt eine Menge Araber, die gute, vorurteilslose Menschen sind, das habe ich erfahren, als ich mich in Nordafrika aufhielt. Aber die Araber in dieser Gegend sind religiöse Fanatiker, und sie werden nie damit aufhören, uns Schwierigkeiten zu machen. Deswegen fliegen sie raus. Was wir Schwarzen wollen, ist ein solider schwarzer Staat, in dem wir alle in Frieden leben können und Brüder sind. Wir wollen unsere eigene Welt, und die Weißen sollen gefälligst unter sich bleiben. Rassentrennung, Charlie! Hier wird sie funktionieren, weil wir uns keine Sorgen mehr um unsere Jobs, um Nahrung, Kleidung, Schutz oder die Justiz zu machen brauchen! Das kriegen wir alles selber hin, Whitey, und alles, was wir tun müssen, um es hinzukriegen, ist, daß wir uns euch vom Leibe halten, dann läuft das wie von selbst!«
Firebrass saß an seinem Platz. Er hielt den Kopf vornübergebeugt, schaute nach unten und strich sich mit einer Hand über die Wange. Sam wurde den Eindruck nicht los, daß er sich mit aller Gewalt zurückhielt, um nicht aufzulachen. Ob er allerdings über Hacking oder diejenigen, die heruntergeputzt wurden, in sich hineinlachte, konnte er nur vermuten. Vielleicht lachte er über beide.
John hielt sich an seinem Bourbon fest. Die Röte, die mittlerweile sein Gesicht bedeckte, kam nicht nur vom Alkohol: Er sah aus, als würde er jeden Moment explodieren. Natürlich mußte es schwer für ihn sein, sich Beschuldigungen anzuhören, die auf ihn nicht zutrafen, aber schließlich hatte er sich dermaßen vieler unaufgedeckter Verbrechen schuldig gemacht, daß es ihm eigentlich nichts schaden konnte, einmal einer Untat bezichtigt zu werden, an der er nicht beteiligt gewesen war. Außerdem, fand Sam, war der Aspekt, daß John sich als einer der Schlimmsten in der Sklavenhaltergesellschaft erwiesen hätte, wäre er nur später geboren worden, nicht von der Hand zu weisen.
Bloß – was wollte Hacking mit dieser Tirade erreichen? Wenn er wirklich darauf aus war, seine Beziehungen zu Parolando zu verbessern, war diese Methode sicherlich nicht der richtige Weg.
Ob er unter dem Zwang litt, jedem Weißen, dem er begegnete, seinen Standpunkt klarzumachen? Wollte er damit nur zeigen, daß er, Elwood Hacking, sich einem Weißen gegenüber keinesfalls für minderwertig hielt?
Hacking war von dem gleichen System kaputtgemacht worden, das mehr oder weniger jeden Amerikaner – ungeachtet welcher Hautfarbe – auf dem Gewissen hatte.
Würde es jetzt für immer so weitergehen? Für immer zerstritten und hassend, während alle Menschen an einem Flußufer lebten, das sich wer weiß wie viele hundert tausend Meilen um einen Planeten wand?
In diesem Moment – in einer einzigen Sekunde – stellte Sam sich die Frage, ob die Chancisten sich nicht vielleicht doch im Besitz der einzig seligmachenden Wahrheit befanden.
Wenn sie wirklich einen Weg kannten, der sie aus diesem selbstgewählten Gefängnis des Hasses hinausführte, waren sie möglicherweise die einzigen, deren Worten man Geltung verschaffen mußte. Dann hatten weder Elwood Hacking noch John Lackland oder Sam Clemens das Recht, noch ein weiteres Wort zu sagen. Sollten die Chancisten doch…
Aber sie waren auf dem falschen Weg, erinnerte er sich selbst. Sie waren nicht anders als alle anderen religiösen Spinner der Erde. Einige von ihnen ohne Zweifel mit den besten Absichten. Aber nicht im Besitz der Wahrheit, auch wenn sie darauf beharrten.
Hacking verfiel plötzlich in Schweigen und Sam sagte: »Nun, wir haben zwar im Protokoll keine Tischreden eingeplant, Sinjoro Hacking, aber ich danke Ihnen dafür, daß Sie die Gelegenheit beim Schopf ergriffen haben. Wir alle danken Ihnen für Ihren Vortrag und hoffen, daß Sie uns nicht auch noch eine Honorarforderung schicken. Unser Finanzhaushalt sieht momentan nicht besonders gut aus, wissen Sie.«
Hacking sagte: »Sie fassen das Ganze wohl auch noch als Witz auf, wie? – Na gut, wie wäre es mit einer Besichtigung? Ich würde sehr gerne einmal das große Schiff sehen, das Sie hier bauen.«
Der Rest des Tages verging eher gemütlich. Sam vergaß sowohl seinen Ärger als auch seine Vorbehalte gegenüber Hacking und führte ihn durch Fabriken, Läden und schließlich auch das Schiff. Obwohl es erst halbfertig war, erweckte es einen ungeheuren Eindruck. Es sah überhaupt besser aus als je zuvor und war… ja, es war sogar hübscher anzusehen als die Erinnerung an das Gesicht Livys, als sie ihm zum ersten Mal ihre Liebe gestanden hatte.
Hacking zeigte sich zwar nicht gerade ekstatisch, war aber ohne Frage zutiefst beeindruckt. Er konnte es sich allerdings nicht verkneifen, anschließend einige Bemerkungen über den desolaten Zustand des umliegenden Gebietes zu machen.
Kurz vor dem Abendessen erhielt Sam eine Nachricht. Ein Mann hatte in einem kleinen Boot am Ufer festgemacht und verlangte den Herrscher dieses Landes zu sprechen. Da es sich bei demjenigen, der ihn hereingelassen hatte, um einen von Sams Leuten handelte, wurde Sam auch sofort benachrichtigt. Auf der Stelle schwang er sich in einen der vor knapp einer Woche fertiggestellten, alkoholverbrennenden »Jeeps«. Der gutaussehende, schlanke und dunkelblonde Mann, der ihn auf der Wachstation erwartete, stand auf und stellte sich vor. Er hieß Wolfgang Amadeus Mozart und sprach esperanto.
Als Sam dem jungen Mann einige Fragen stellte, fand er heraus, daß er einen weichen österreichischen Akzent hatte und sein Vokabular Redewendungen enthielt, die Sam nicht verstand. Möglicherweise handelte es sich dabei um österreichische Ausdrücke oder Begriffe aus der deutschen Sprache des achtzehnten Jahrhunderts.
Der Mann, der sich Mozart nannte, gab an, bisher in einem Gebiet gelebt zu haben, das von Parolando aus gesehen zwanzigtausend Meilen flußaufwärts lag. Er hatte von Sams Schiff gehört, aber was ihn zu dieser langen Reise veranlaßt hatte, war eine Geschichte, derzufolge man beabsichtige, zur Zerstreuung der Passagiere auch ein Orchester mit auf die Reise zu nehmen. Mozart hatte dreiundzwanzig Jahre auf dieser materiearmen Welt über sich ergehen lassen müssen, in der die einzigen Musikinstrumente aus Trommeln, Pfeifen, hölzernen Flöten und einer primitiven Art von aus Darmsaiten und Fischgräten hergestellten Harfe bestanden. Dann hatte er von dem Meteoriten gehört, und nun brannte er darauf, aus Metall all das herzustellen, was es an Musikinstrumenten zu seiner Zeit und später gegeben hatte: ein Piano, Violinen, Flöten und Hörner. Und da sei er nun. Ob man ihn bei den Schiffsmusikern gebrauchen könne?
Obwohl Sam kein passionierter Liebhaber klassischer Musik war, hatte er doch einiges an ihr zu schätzen gewußt. Was ihn jedoch am meisten begeisterte, war die Tatsache, hier dem weltberühmten Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart persönlich gegenüberzustehen. Vorausgesetzt natürlich, der Mann war, was er zu sein vorgab: Es wimmelte auf dieser Welt dermaßen von Hochstaplern, daß man sich besser nicht darauf beschränkte, ihre Identität von ihren Aussagen abhängig zu machen. Angefangen vom einzigartigen Jesus H. Christus bis hin zum originalbayerischen Franz Josef Strauß war Sam beinahe jede wichtige Persönlichkeit der Erde schon mehrmals begegnet. Er hatte sogar drei Männer getroffen, die für sich in Anspruch nahmen, Mark Twain zu sein.
»Es ist allerdings so, daß der ehemalige Erzbischof von Salzburg bereits hier lebt«, sagte Sam. »Aber selbst wenn Sie nicht im besten Einvernehmen von ihm schieden, bin ich sicher, daß er sich freuen wird, Sie hier zu sehen.«
Mozart wurde weder rot noch blaß, sondern sagte nur: »Wenigstens einer, den ich während meines Lebens kannte! Können Sie sich vorstellen, daß…«
Sam konnte sich nur zu gut vorstellen, daß Mozart auf dieser Welt niemanden aus seinem früheren Leben getroffen hatte. Er selbst war ungeachtet seiner zahlreichen Reisen in andere Länder selbst erst drei Menschen begegnet, die er in seinem vorherigen Leben gekannt hatte: Daß seine Frau Livy eine dieser Personen war, widersprach zudem noch allen Regeln der Wahrscheinlichkeit. Vermutlich war der geheimnisvolle Fremde für dieses Zusammentreffen verantwortlich. Dennoch war selbst Mozarts Freude, den Erzbischof von Salzburg wiederzusehen, keine Garantie dafür, daß seine Identität stimmte. Bisher waren diejenigen Hochstapler, denen man jemanden gegenübergestellt hatte, entweder so weit gegangen zu behaupten, daß ihre angeblichen alten Freunde sich irrten oder selbst Hochstapler waren. Außerdem lebte der Erzbischof von Salzburg gar nicht in Parolando. Sam hatte keine Ahnung, wo er steckte. Er hatte den Mann nur deswegen vorgeschoben, weil er Mozarts Reaktion erfahren wollte.
Sam erklärte sich schließlich damit einverstanden, daß Sinjoro Mozart die Bürgerrechte verliehen wurden. Zuerst machte er ihm klar, daß man bis jetzt noch keinen Gedanken daran verschwendet hatte, Musikinstrumente aus Metall herzustellen, aber wenn es dazu kam, würden sie keinesfalls aus Holz gemacht werden: Es sollten elektronische Geräte sein, die genauestens die Klänge jeglicher Instrumente imitieren konnten. Aber wenn Sinjoro Mozart in der Tat der Mann sei, der er zu sein vorgab, habe er auf alle Fälle gute Chancen, zum Leiter dieses Orchesters zu avancieren. Und inzwischen solle er sich schon einmal daran machen, feste drauflos zu komponieren.
Diesmal verzichtete Sam darauf, ihm eine feste Zusage zu geben. Was Versprechungen anbetraf, hatte Sam inzwischen seine Lektion gelernt.
In Johns Palast wurde zu Ehren Hackings, der inzwischen weniger ungestüm wirkte als am Tag seiner Ankunft, ein großer Festball abgehalten. Sam unterhielt sich eine ganze Stunde lang mit dem Führer der Schwarzen und stellte dabei fest, daß er einen hochgebildeten und intelligenten Menschen vor sich hatte; einen Mann, dessen Wissen auf autodidaktischen Studien beruhte und der eine Vorliebe für das Poetische und Imaginative hatte. – Was seinen Fall nur noch trauriger machte, wie Sam fand, da er seine Talente auf diese Weise verschwendete.
Gegen Mitternacht begleitete er Hacking und seine Leute zu dem neuerbauten und mit dreißig Zimmern ausgestatteten zweistöckigen Gebäude aus Stein und Bambus, das von nun an jedem Staatsgast als Quartier dienen würde. Es lag auf halbem Wege zwischen Johns Palast und Sams Hauptquartier. Anschließend fuhr er mit seinem Jeep nach Hause und Joe zeigte sich ein wenig verstimmt, weil er den Wagen selbst hatte fahren wollen, obwohl ihm seine langen Beine nicht einmal erlaubten, hinter dem Steuer Platz zu nehmen. Sie kletterten die Leiter zu Sams Haus hinauf und verriegelten hinter sich die Tür. Joe ging sofort in sein Zimmer und warf sich mit einer solchen Wucht auf das Lager, daß das Haus auf den Stützpfeilern wankte. Sam warf noch einen Blick aus dem Fenster, entdeckte Cyrano und Livy, die Arm in Arm auf ihre Hütte zugingen, und sah auf das links oberhalb davon liegende Quartier von Richthofens, der offensichtlich schon zu Bett gegangen war.
Ohne jemand bestimmten zu meinen, murmelte er »Gute Nacht« und fiel in sein Bett. Er hatte einen langen und harten Arbeitstag hinter sich, und der Festball war nicht minder anstrengend gewesen. Zudem hatte er zuviel getrunken und zuviel Tabak und Marihuana geraucht.
Ein Traum, der ihn in die Zeit des kalifornischen vierten Juli zurückführte, ließ ihn erwachen.
Sam sprang aus dem Bett und rannte über den unter seinen Füßen erbebenden Boden auf die »Brücke«. Noch bevor es ihm gelang, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, wußte er, daß die Explosionen und Erdbewegungen auf den Einfall von Invasoren zurückzuführen waren. Und er erreichte das Fenster nie, denn im gleichen Moment prallte eine Rakete gegen einen der Stützpfeiler und detonierte. Der Knall zerfetzte ihm beinahe die Trommelfelle. Dann drang Rauch durch die zerschmetterten Scheiben zu ihm herein, wirbelte die Papiere auf, und Sam fiel hin. Das Haus brach in sich zusammen, die Vorderfront stürzte ein. Die Geschichte wiederholte sich von neuem.